Veröffentlicht am 19. Juli 2021
Ein Beitrag von Meltem Ay

ESG-Ratings – Marketing tool or Must-have?

Im Gespräch mit Dr. Moritz Kraemer, Chefökonom bei CountryRisk.io*, 17 Jahre Global Chief Rating Officer Sovereign Ratings bei S&P und Independent Non-Executive Director bei der europäischen Ratingagentur Scope.

ESG ist ein Akronym und steht für Environmental, Social und Governance, d. h. für Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Seit etwa zehn Jahren werden ESG-Ratings komplementär zu den herkömmlichen Kreditratings erstellt. Letztere bewerten die Ausfallwahrscheinlichkeit eines Kredits, während #ESG-Ratings untersuchen, wie nachhaltig Staaten oder Unternehmen aufgestellt sind.  

Was genau sind ESG-Ratings?

Mit Hilfe von Performance-Ratings versuchen #Ratingagenturen, anstelle der sonst etablierten Unternehmenskennzahlen (KPI = Key performance indicator) wie Rendite oder Steigerung des Marktanteils, Nachhaltigkeit messbar zu machen. ESG-Ratings stellen dabei den Versuch dar, anhand von Commitments der bewerteten Unternehmen den Grad der Zielerreichung zu ermitteln und damit eine Vergleichbarkeit hinsichtlich der drei Kriterien herzustellen, die für Investoren aussagekräftig ist. Die ESG-Ratings dienen dabei zur Orientierung für externe Stakeholder wie Investoren, Interessengruppen und Politiktreibende. Insbesondere Großinvestoren und institutionelle Anleger achten zunehmend auf die Erfüllung der Kriterien im Sinne nachhaltiger Geldanlagen.

Sind ESG-Ratings ernst zu nehmen und künftig gar verpflichtend zu erstellen oder in der Wirtschaft nur ein Nice-to-have?

ESG-Ratings sind längst kein Nice-to-have mehr. Sie werden allerdings auch nicht vom Gesetzgeber vorgeschrieben. Seitens der Stakeholder geraten sie jedoch immer häufiger in deren Fokus, was sich beispielsweise auch bei den Nachfragen auf den Jahreshauptversammlungen beobachten lässt. Parallel steigt das Interesse in der Öffentlichkeit hinsichtlich der Berücksichtigung dieser drei Kriterien. Dies lässt sich insbesondere bei Privatkunden und Medien beobachten. Ohne ESG-Ratings oder aber bei einem unterdurchschnittlichen Abschneiden sind für das betreffende Unternehmen zunehmend Nachteile zu erwarten. Dies kann Beziehungen zu Investoren, Zulieferern oder Kunden betreffen und je nach Ausmaß oder Identifikation auch die zur Belegschaft.

Für welche Branchen sind ESG-Ratings relevant?

Beim ESG-Rating handelt es sich nicht um ein Instrument für spezifische Sektoren. Ähnlich wie bei Kreditratings können sie für diverse Wirtschaftszweige herangezogen werden. Sie sind folglich branchenunabhängig einsetzbar und auch für alle Branchen relevant – insbesondere in ihrer Außenwirkung. Aktionäre, Investoren oder auch Kunden interessieren sich zudem nicht nur für eine umweltfreundliche Produktion, sondern verstärkt auch für Unternehmensethik und soziale Aspekte, siehe die Problematik der „Lieferketten“.

Wie arbeiten ESG-Ratingagenturen und wie werden sie reguliert?

ESG-Ratingagenturen arbeiten mit Performance-Kriterien. Allerdings mit unterschiedlichen Methodologien, so dass hier auch unterschiedliche Attribute herangezogen werden. Wie auch bei herkömmlichen Kreditratings sind ESG-Bewertungen zukunftsgerichtete Meinungen über die Nachhaltigkeit. Da gibt es gerne mal Meinungsverschiedenheiten, aber ex-ante zunächst kein objektives Richtig oder Falsch. Auf einen allgemeingültigen Leitfaden kann man daher nicht zurückgreifen, stattdessen werden normative Wertungen herangezogen, frei nach dem Motto „Wem ist was wie wichtig?“.

Beim Kreditrating kann man im Nachhinein objektiv messen, ob ein Kredit tatsächlich ausgefallen ist. Wenn man über viele Unternehmen hinweg die Ausfallwahrscheinlichkeiten mit den Kreditratings vergleicht, lässt dies zumindest ex-post ein statistisch fundiertes Urteil über die Qualität der Kreditratings zu. Bloß, wie soll man die Qualität eines ESG-Ratings quantifizieren und somit messen? „Nachhaltigkeit“ ist ein vergleichsweise amorphes Konzept im Vergleich zu einem beobachtbaren Zahlungsausfall auf finanzielle Verbindlichkeiten.

Es stellen sich darüber hinaus weitere Fragen: Wird z. B. betrachtet, welchen Einfluss das Unternehmen auf die Umwelt hat (inside-out) oder wie sich die Umwelt auf das Unternehmen (outside-in) auswirkt? Oder eine Mischung beider Ansätze? Es wird unmittelbar klar, dass verschiedene Ansätze zu wenig vergleichbaren Ergebnissen führen können.

Und wer trifft die Entscheidung, was ein „gutes“ Rating ist und welches nicht? In Abwesenheit von Regulierung ist das schwierig. Ich erwarte eine Regulierung des ESG-Rating-Sektors als Folge des kometenhaften Anstiegs dieses Marktsegments und der damit einhergehenden wachsenden Bedeutung auch für die Finanzmarktstabilität. Bei den Kreditratings dauerte es über hundert Jahre, bis sie in das engmaschige Überwachungsnetz der Aufsichtsbehörden gerieten, in Europa beispielsweise der ESMA (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde). Bei den ESG-Ratings wird dies viel schneller ablaufen. Mit einer Regulierung und Überwachung steigt auch das Vertrauen in die Objektivität der angewandten Methodologien, in die Ordnungsmäßigkeit der Prozesse und in das effektive Management von Interessenskonflikten. Bis dahin bleibt der Weg durch das Dickicht von ESG-Ratings für Unternehmen wie Nutzer beschwerlich.

Ich sehe derzeit nicht, wie eine Standardisierung kurzfristig und flächendeckend umsetzbar ist. Mit der Verordnung zur EU-Klimataxonomie hat die Europäische Kommission allerdings ein Maßnahmenpaket vorgelegt, das richtungsweisend sein dürfte. Europa ist hier Vorreiter und die EU-Taxonomie sollte einer gewissen Standardisierung zumindest im E-Drittel von ESG Vorschub leisten – auch außerhalb Europas.  

Darüber hinaus gibt es eine Absichtserklärung, die bereits von breiten Teilen der Finanzwirtschaft unterstützt wird. Bei diesen Principles for Responsible Investment (PRI) handelt es sich um freiwillige und unverbindliche Investitionsprinzipien. Sie zeigen eine Auswahl möglicher Maßnahmen auf, anhand derer ESG-Themen in Investitionsentscheidungsprozesse einbezogen werden können. Über 2.400 Investoren, die gemeinsam ein Fondsvolumen von 86 Billionen US$ verwalten, haben die PRI bereits unterschrieben und verpflichten sich damit, ESG-Informationen in ihre Investitionsentscheidungen einfließen zu lassen. Die weltweite Emission von Anleihen für ökologische, soziale und Governance-Ziele wird in diesem Jahr laut Schätzungen von Bloomberg voraussichtlich sogar erstmals die Marke von 1 Billion US-Dollar erreichen.

Besteht die Gefahr eines Rating-Shoppings?

Die Spanne von ESG-Ratings ist deutlich größer als die Spanne von Kreditratings. Das bedeutet, dass die Bewertungen verschiedener ESG-Ratinganbieter häufig sehr viel weiter auseinander liegen, als wir das von herkömmlichen Kreditratings gewohnt sind. Das mag zum einen daran liegen, dass es viel mehr Erfahrung gibt mit der Vorhersage von Ausfallwahrscheinlichkeiten. Aber es liegt auch daran, dass es beim ESG-Rating viel weniger offensichtlich ist, was eigentlich gemessen wird.

Das Beispiel Tesla zeigt: Einige Anbieter von ESG-Ratings haben Tesla ein hervorragendes Ergebnis aufgrund seines Beitrages zur Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen durch den Individualverkehr bescheinigt. Also Daumen hoch beim E von ESG. Bei einem anderen Anbieter hingegen kam es im Bereich Soziales zu einem schlechten Ergebnis wegen der häufig kritisierten Arbeitsbedingungen in den Tesla-Fabriken. Wer hat nun recht? Oder wurde einfach nur ein anderer Schwerpunkt gesetzt? So oder so können die Ergebnisse weit auseinanderliegen.

Schnell kommt es dann zu dem Vorwurf, sich durch „Rating-Shopping“ ein genehmes ESG-Rating auszusuchen. Um dem vorzubeugen, bedarf es somit einer Standardisierung. Doch auch ein ESG-Rating muss sich kommerziell tragen. Aber wer bezahlt das Rating? Es läuft immer auf die gleiche Frage hinaus: Zahlt der Emittent und beauftragt die Agentur, steht das gefürchtete Shopping-Phänomen in der Diskussion. Dieser inhärente Interessenskonflikt könnte dadurch eingedämmt werden, dass die Nutzer der ESG-Ratings, z. B. Vermögensverwalter, die Bezahlung der ESG-Ratings vornehmen. Aber weshalb sollten die Nutzer für ein Rating zahlen wollen, das öffentlich kursiert? Wir sind bei den ESG-Ratings mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert wie bei herkömmlichen Kreditratings. Auch dort konnte bis heute kein kommerziell stabiles Business Modell etabliert werden, bei dem ausschließlich der Nutzer und nicht das geratete Unternehmen die Zahlung vornimmt.

Wer bietet ESG-Ratings an? Sind hier mittlerweile alle Ratingagenturen mit von der Partie oder haben sich einige zu diesem Thema spezialisiert?

Bei den ESG-Ratinganbietern ist es zu einem gewissen Wildwuchs gekommen. Aufgrund fehlender Regulierung oder Standardisierung sind die Markteintrittsbarrieren vergleichsweise gering. Die zentrale Voraussetzung für den Erfolg in diesem Markt ist meines Erachtens ein hinreichend großes Portfolio an ESG-Rating-Mandaten. Nur so lässt sich eine nennenswerte Marktrelevanz herstellen. Was zum bekannten Henne-Ei-Problem führt und bereits zur Marktkonzentration bei Kreditratings geführt hat: ohne Kunden keine Relevanz, ohne Relevanz keine Kunden.

Mit Blick auf die Marktstrukturen erwarte ich folgerichtig eine fortschreitende und sich beschleunigende Konsolidierung. Die etablierten Kreditratingagenturen haben eine Chance erkannt, die dieses rasch wachsende Segment bietet. Sie profitieren dabei von einem starken Markennamen, der unmittelbar mit „Rating“ verbunden ist, was einem erheblichen Wettbewerbsvorteil gleichkommt. Es haben sich aber auch spezialisierte ESG-Ratingagenturen mit erheblichem Marktanteil etabliert, wie etwa MSCI oder Sustainalytics. Ein weiteres Wachstum ist hier wahrscheinlich.

Die Großen werden viele der kleinen ESG-Agenturen schlucken oder aus dem Markt verdrängen. Insbesondere dann, wenn es zu einer Regulierung kommt und die damit verbundenen Anforderungen in den Bereichen Compliance, Legal, Qualitätskontrolle usw. zu einem Mehraufwand mit Fixkostencharakter führen. Für kleine Start-ups ist das nur schwer zu stemmen.

Warum sind Großbritannien und insbesondere Frankreich bei ESG führend?
Galt nicht insbesondere das Umweltbewusstsein in Deutschland bisher als Alleinstellungsmerkmal?

Ob wir in puncto Nachhaltigkeit wirklich so viel besser sind als unsere Nachbarländer, bezweifele ich und halte es für eine bereits widerlegte These. EU-Daten zeigen, dass wir etwa bei Energieintensität und Verringerung von CO2-Emissionen etc. nicht so gut abschneiden, wie man gerne glauben möchte. Die Selbstwahrnehmung stimmt in diesem Punkt schlicht nicht (mehr) mit der Realität überein. Deutschland mag einst die Speerspitze beim Umweltschutz gebildet haben, doch haben wir mittlerweile viel Terrain verloren.

Darüber hinaus investieren deutsche Haushalte im Vergleich zu Privathaushalten im Ausland weniger in Kapitalmarktprodukte. Hierzulande ist man den Bankeinlagen und dem „Betongold“ treu. Dies bedeutet aber auch, dass die Nachfrage nach ESG-Rating-relevanten Finanzprodukten in Deutschland entsprechend geringer ausgeprägt ist.

Welche Auswirkungen hat die aktuelle Corona-Krise auf das Thema ESG?

Die Pandemie hat unsere Sinne für neue Risiken geschärft. Sie hat uns unsere Verwundbarkeit schmerzlich vor Augen geführt.  Business as usual mag zwar gemütlich sein, aber nach der Pandemie gibt es auch vor diesem Hintergrund kein Zurück mehr. Themen wie gesundheitliche Resilienz aber auch Tipping points im Bereich Umweltschutz, wie die jüngsten Flutkatastrophen, spielen nun verstärkt eine Rolle und schärfen unsere Wahrnehmung bezüglich E-Risiken weiter. Wenn plötzlich eine Beschleunigung durch Rückkopplungseffekte eintritt, steht das Management unwiderruflich vor der Herausforderung, über das ansonsten vorrangige ROI [Return on investment] hinauszuschauen.

Hinzu kommen nach und nach neue Vorgaben zur Orientierung relevanter Player: Mit der im Juli 2020 in Kraft getretenen Verordnung zur Taxonomie führt die EU-Kommission beispielsweise ein Klassifikationssystem ein, das Anlegern dabei helfen soll, grüne Investments zu erkennen und zugleich ein nachhaltiges Finanzwesen aufzubauen.

Auch die Task Force on Climate-Related Financial Disclosures (#TCFD), 2017 vom Financial Stability Board (#FSB) eingeführt, verfolgt das Ziel, bei Unternehmen, Banken und Investoren konsistente klimabezogene, finanzielle Risikoangaben für die Bereitstellung von Informationen für die Stakeholder zu etablieren. In der Folge sollen Unternehmen eine bessere und transparentere Berichterstattung aufbauen. All dies trägt zu sich verstärkend wirkenden, positiven Rückkopplungseffekten bei.

Im Juli dieses Jahres hat die Europäische Zentralbank im Rahmen der Neuausrichtung ihrer Strategie zudem verdeutlicht, dass sie zukünftig darauf achten will, ob Unternehmen entsprechend den Klimazielen handeln, bevor sie deren Anleihen für das Ankaufprogramm in Betracht zieht. Dies wird auf Unternehmensebene einen starken Anreiz schaffen, Fortschritte bei klimarelevanter Berichterstattung und ESG-Ratings voranzutreiben.

Welchen Impact hat ESG auf die personellen Zuständigkeiten in den analysierten Unternehmen?

Der aktuelle Trend führt zu innovatorischen Veränderungen innerhalb der Unternehmen. Denn die Erfüllung der ESG-Anforderungen kann nicht einfach nebenbei vom Vorstand erledigt werden. Nicht umsonst werden zunehmend neue Positionen wie Head of Sustainability oder Head of ESG in die Unternehmenshierarchie – in der Regel mit Stabsfunktion – neu eingezogen und mit Experten besetzt.

Wie funktioniert die Arbeit eines Head of Sustainability bzw. Head of ESG und welche Voraussetzungen sollten für eine erfolgreiche Positionierung erfüllt sein?

Was wir brauchen ist eine Integration in die Organisationsstrukturen. Beim Head of Sustainability handelt es sich um einen transversalen Aufgabenbereich für verschiedene Unternehmenseinheiten bis in den Vorstand hinein. Beispielsweise muss der CEO durch den Head of ESG auf Hauptversammlungen oder gegenüber Medien zu diesem Thema sprechfähig gemacht werden. Eine Professionalisierung ist folglich von besonderer Bedeutung.

Die Governance ist meines Erachtens ebenfalls entscheidend. Welche Zielgrößen werden in diesem Kontext definiert und implementiert? Die Berichtsfrequenz muss erhöht werden. Auch die Auswahl des Monitorings ist relevant. Das sind Aufgaben, denen sich heute Unternehmen ab einer gewissen Größe stellen müssen. In kleineren, inhabergeführten Unternehmen ist ein Verzicht vielleicht noch möglich, nicht aber dort, wo Kapital von außen kommt.

Hat ESG CSR abgelöst…? Vom Feigenblatt zur verpflichtenden regulatorischen Vorgabe

Die ESG-Thematik geht sehr viel weiter als #Corporate Social Responsibility (#CSR). Es könnte sogar dazu kommen, dass CSR in Zukunft in ESG aufgeht.

Lange Zeit diente CSR häufig nur der Selbstbeweihräucherung nach außen ohne große Konsequenzen. CSR ist für die Motivation der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vielleicht hilfreich, aber selten relevant für externe Stakeholder. Bei CSR handelt es sich somit meines Erachtens oft vorrangig um ein Marketinginstrument nach dem Motto „tue Gutes und rede darüber“. Eine weitergehende strategische Struktur lässt sich dahinter jedoch allenfalls in Ausnahmefällen erkennen.

Bei ESG-Ratings handelt es sich dagegen um eine ganz andere Hausnummer. Da geht es um strategische Unternehmensentscheidungen. Bisweilen liegt die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens selbst in der Waagschale. Hier sind mit Kompetenz und Autorität ausgestattete Führungspersönlichkeiten gefragt. Diese zu finden, wird eine der personalpolitischen und strategischen Herausforderungen der kommenden Jahre werden.

Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Kraemer.

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